Cover
Titel
Herman Lundborg. Rätsel eines Rassenbiologen. Mit einem Begleitwort von Uwe Puschner


Autor(en)
Hagerman, Maja
Anzahl Seiten
X, 480 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Mayer, Provenienzforschung, Naturhistorisches Museum Wien

In ihrer 2015 auf Schwedisch publizierten und 2020 ins Deutsche übersetzten Biographie über den schwedischen Psychiater, Eugeniker und Anthropologen Herman Lundborg (1868–1943) nennt die mehrfach ausgezeichnete Autorin Maja Hagerman als Motivation für dieses Buch ihre Verwunderung darüber, dass Lundborg in einer außerehelichen Affäre mit einer Frau zusammenlebte, deren „Rassenzugehörigkeit“ als Angehörige der samischen Minderheit in Schweden seinen mehrfach öffentlich geäußerten Ansichten zu „Rassen“ und den angeblich schädlichen Einflüssen von „Rassenmischungen“ diametral entgegenstand. Hagerman machte sich daraufhin in rund 16.000 beruflichen und privaten Briefen auf die Suche nach der Geschichte dieser Frau, Maria, und ihrem mit Lundborg gezeugten außerehelichen Sohn. Das Ziel von Hagermans Recherchen war es demnach, das Gefühls- und Liebesleben Lundborgs mit seinen wissenschaftlichen Ambitionen und Lehren zu verknüpfen, gewissermaßen zu konterkarieren. So meint sie auch, eine Geschichte darüber zu erzählen, „was es bedeutet, etwas zu wissen – oder zu wissen zu glauben“ (S. 6). Schließlich solle „Rassenbiologie“ in ihrer Untersuchung auch als „eine politische Bewegung mit einer spezifischen Agenda“ sichtbar gemacht werden, damit „das Wissen über die Ideen dieser Bewegung uns vor dieser Anziehung [einer biologistisch begründeten Ethik, TM] schützt“ (S. 7).

Der erste Teil der Biographie, „Der Weg in ein rassenbiologisches Universum“, behandelt die Jahre von 1895 bis 1912 und somit den frühen beruflichen Werdegang Lundborgs als Psychiater und Anthropologe, seine ersten internationalen eugenischen Kontakte sowie die Heirat mit seiner Ehefrau Thyra. Der zweite Teil, „Abenteuer Lappland“, ist ausführlich den ersten anthropologischen Forschungen in Lappland von 1913 bis 1917 gewidmet, die zunehmend zu Lundborgs Lebensinhalt wurden. In seinen ersten Vorträgen von 1913 zur Rassenbiologie und Rassenhygiene warnte er vor den angeblich schädlichen Wirkungen sogenannter „Rassenmischungen“, etwa zwischen Schweden und Sámi („Lappen“). 1915 änderte er die Bezeichnung seiner Dozentur an der Universität Uppsala in „Rassenbiologie und medizinische Vererbungslehre“ und bereitete so den Boden für die Verwissenschaftlichung des Faches in Schweden. Hier zeichneten sich laut Hagerman bereits gewisse Muster der Macht im Leben Lundborgs ab: in sozialer Hinsicht zwischen Forscher und Beforschten, aber auch zwischen den Geschlechtern – dem Professor auf der einen, und seinen jüngeren Assistentinnen, zunächst Hilja, später Maria, die aus der Sicht des Rassenforschers jeweils „minderen Rassen“ angehörten, auf der anderen Seite. Im dritten Teil werden die eugenisch-anthropologischen Popularisierungen zwischen 1918 und 1921 anhand der erfolgreichen Ausstellung „Schwedische Volkstypen“ in den Kontext der Bemühungen zur Gründung des Staatlichen Instituts für Rassenbiologie in Uppsala gestellt. Im vierten und ausführlichsten Teil des Buches werden die ersten Jahre des Institutes im Zeitraum von 1922 und 1928 behandelt, dessen erster Leiter Lundborg war. Lundborgs Avancen gegenüber dem Nationalsozialismus, seine Kontakte zu deutschen Rassenforschern und sein Engagement für die „nordische Rasse“ werden ebenso aufgezeigt wie seine beginnende Liebesbeziehung mit der Sámin Maria, mit der er ein Kind hatte. Der abschließende fünfte Teil folgt den letzten Jahren Lundborgs von 1929 bis 1943. Das auffallend kurze Kapitel endet mit einem Brief Heinrich Himmlers aus dem Jahr 1932, in dem auch Lundborg zitiert wurde, und den Verweis auf die Tätigkeit eines ehemaligen Schülers von Lundborg, Bruno K. Schultz, im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, wodurch die Autorin die Bedeutung des schwedischen Rassenforschers für die NS-Rassenpolitik und seinen Bezug zum Nationalsozialismus unterstreicht.

Maja Hagermans Biographie skizziert die Person Lundborgs detailreich und überzeugend als einen frühen Eugeniker mit Kontakten zu Rassenhygienikern in der „Internationale der Rassisten“ (Stefan Kühl)1 und deutschen Rassenforschern wie Hans F.K. Günther, wie auch als Antisemit, Rassist und Anhänger des Nationalsozialismus. Auch in dem der deutschen Auflage beigefügten Begleitwort des Historikers Uwe Puschner werden die Beziehungen Lundborgs zu deutschen Eugenikern und Rassenforschern und seine Begeisterung für den Nationalsozialismus ebenso hervorgestrichen wie seine positive Haltung zur NS-Biopolitik und dem schwedischen Sterilisationsgesetz von 1934.

Der in diesem Buch zentrale und als Standard für eine wissenschaftliche Disziplin verstandene Begriff der „Rassenbiologie“ hatte sich im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs allerdings erst mit der Ausdifferenzierung der vererbungswissenschaftlich-anthropologischen Disziplinen, der NS-Bio- und Rassenpolitik und der Institutionalisierung dieses Faches an den Universitäten nach 1933, und insbesondere zwischen 1938 und 1945, durchgesetzt. Hier offenbart sich ein Unterschied zum schwedischen Diskurs, den Lundborg durch die Verwendung des Begriffs und des 1921 auf seine Anregung hin geschaffenen, weltweit ersten staatlichen Institutes für Rassenbiologie frühzeitig geprägt hatte, während im deutschsprachigen Diskurs zunächst die Begriffe Rassenhygiene und Eugenik präferiert wurden.2

Wie auch von Hagerman angemerkt, prägte den Begriff „Rassenbiologie“ der Altmeister der deutschen Rassenhygiene, der Arzt Alfred Ploetz, in den Jahren 1895 und 1904. Die von Ploetz vorgeschlagene Definition unterschied sich allerdings insofern von der Auffassung Lundborgs, als Ploetz eine noch zu gründende Gesamtwissenschaft als „Lehre vom Leben“, die somit Pflanzen und Tiere miteinschloss, vor Augen hatte, während Lundborg auf den Menschen fokussierte. Ähnlich wie bei Lundborg wurde der Begriff „Rassenbiologie“ in der Weimarer Republik seit etwa Anfang der 1920er-Jahre vorwiegend von Anthropologen wie Eugen Fischer, Otto Aichel und Walter Scheidt verwendet, um eine moderne Form dieser Disziplin anzuzeigen, die die Erkenntnisse der botanischen und zoologischen Vererbungsforschung für die Wissensproduktion nicht-pathologischer, menschlicher Vererbung nutzbar machen wollte. Ziel blieb es auch hier, „Rassen“ typologisch zu bestimmen und genetische Grundlagen für eugenische Sozialtechnologien anbieten zu können. Die Wahl der Bezeichnung für das jeweilige zu gründende Institut war dabei keineswegs unbedeutend, sondern markierte zur jeweiligen Zeit neue wissens- und biopolitische Strömungen. Ob das Begriffsverständnis auch in Schweden im Laufe der Zeit eine Transformation erfuhr, wäre eine spannende Frage, die allerdings zugegebenermaßen den zeitlichen Horizont dieser Biographie gesprengt hätte.

Das Buch ist außerordentlich akribisch recherchiert und ein wahrer Fundus für an der Geschichte der eugenischen Bewegung und der mit ihr verknüpften „Rassenforschung“ interessierte Leser:innen. Ein ausführlicher Fußnotenapparat und ein Namenregister unterstützen die Suche zusätzlich. An manchen Stellen gerät die Darstellung vielleicht etwas zu detailliert, wenn nur noch Namen der Korrespondenzpartner Lundborgs genannt werden, ohne Erwähnung ihrer Funktion oder analytischen Bedeutung für die Untersuchung. Auch ist fraglich, welchen Wissenswert beispielsweise die Information der Anzahl der von Lundborg bestellten Exemplare seiner Publikationen enthält. Zuweilen sind manche Passagen auch sehr spekulativ. Hier wäre die etwaige Schwangerschaft der Assistentin Hilja und eine angeblich vorgenommene Abtreibung zu nennen, welche die Autorin lediglich aus der überraschenden Abwesenheit der Assistentin herleitet und die offenkundig dazu dient, das von Hagerman bei Lundborg identifizierte Machtmuster zu erklären.

Etwas undeutlich bleibt zudem, warum die letzten 14 Jahre des schwedischen Rassenbiologen auf lediglich rund 30 Seiten abgehandelt werden, zumal ausgerechnet zu dieser Zeit der auf den im Buch vielfach verwiesene NS-Staat entstanden war und Lundborg immerhin bis 1935 Leiter des Institutes für Rassenbiologie blieb. Ebenso wäre die Haltung Lundborgs zur Debatte der in Schweden 1934 und 1941 eingeführten Sterilisationsgesetze durchaus interessant gewesen. Auch ist das Schlusskapitel mit dem Verweis auf Heinrich Himmler und die Rassenuntersuchungen der SS zwar geeignet, die vielfachen Beziehungen Lundborgs zu Protagonisten des NS-Staates und seinen Einfluss auf diese zu zeigen, jedoch schwingt hierin auch eine Verkürzung der Geschichte der Eugenik und Anthropologie auf ihre Kulmination im NS-Staat mit. Zuletzt verweist Hagerman auch auf den Umstand der engen Vernetzung mancher Eugeniker und Rassenforscher untereinander und die Vorbildwirkung, die Lundborg und sein Institut für die deutschsprachige Rassenforschergemeinschaft Anfang der 1920er-Jahre besaß, insbesondere auch auf einige Anthropologiestudenten aus Wien, die zum Teil im NS-Staat Karriere machten.

Die Darstellung von Lundborgs Widersprüchlichkeiten, den Problemen seines neugegründeten Instituts in der öffentlichen Wahrnehmung und durch die zunehmenden Abwesenheiten seines Leiters, sowie dessen für eine Institutsleitung ungeeigneten Fähigkeiten, kann als sehr gelungen bezeichnet werden. Es ist mit Sicherheit eine der Stärken des Buches, die Widersprüchlichkeit zwischen dem publizierten Wort und den Handlungen Lundborgs in „Rassenfragen“ hinsichtlich seiner Beziehung mit der Sámin Maria aufzuzeigen und derart seine Rassenlehren als unglaubwürdig zu entlarven.

Anmerkungen:
1 Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997.
2 Thomas Mayer, Das Wiener Modell der Rassenbiologie. Das Rassenbiologische Institut der Universität Wien, 1938 bis 1945, Wien 2023 (in Vorbereitung).